Vortrag: Priv.-Doz. Dr. Walter Bruchhausen (RWTH Aachen) – Erklären und Verstehen fremder Medizin: Klassifikation von Heilkunde zwischen Szientismus und Kulturalismus

Das Graduiertenkolleg 1876 „Frühe Konzepte von Mensch und Natur: Universalität, Spezifität, Tradierung“ und der Interdisziplinäre Arbeitskreis „Alte Medizin“ laden zum Vortrag von Priv.-Doz. Dr. Walter Bruchhausen (RWTH Aachen) zum Thema „Erklären und Verstehen fremder Medizin: Klassifikation von Heilkunde zwischen Szientismus und Kulturalismus“ ein.

Donnerstag, 29.01.2015, 18 Uhr c.t.
Hegelstr. 59, 55122 Mainz, Raum 00-309

Abstract:
Fremde Heilkunde war und ist eine besondere Herausforderung, weil es die Medizin – im Unterschied zu den beiden anderen „true professions“ in Recht und Religion – mit den biologischen Grundlagen des Menschen zu tun hat, denen in einem naturwissenschaftlich geprägten Zeitalter eine höhere Universalität zugeschrieben wird.
Diese Sicht entstand vor allem mit den Erfolgen der naturwissenschaftlich orientierten Medizin in Wissenschaft und Krankenversorgung der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts und führte zu einer starken Abwertung desjenigen Heilwissens, das nicht auf diesen Grundlagen basiert. Als Erbe bestimmt sie eine szientistische Herangehensweise an Heilen bis heute, es wird nach der naturwissenschaftlich beweis- und erklärbaren Krankheitswahrnehmung und Wirkung pflanzlicher, manipulativer oder ritueller Behandlungsverfahren gefragt.
Der von der Phänomenologie vorbereitete Kulturalismus, wie er um die Mitte des 20. Jahrhunderts die Ethnologie zu dominieren begann, führte zum entgegengesetzten Extrem. Wenn alle „Kulturen“ gleichermaßen gültige Weltwahrnehmungen sind, kann es auch im Heilen kein richtig oder falsch geben, sondern nur Sinnhaftigkeit im jeweiligen, zu recht geschlossen gedachten kulturellen System. In der Diltheyschen Unterscheidung wäre vor allem Verstehen und weniger Erklären gefragt.
Da sich Ethnomedizin bzw. Medical Anthropology, Medizingeschichte bzw. Kultur- und Sozialgeschichte von Medizin und Gesundheit in einem interdisziplinären Raum entwickelten, als Teil „medizinischer Entwicklungshilfe“ oder ärztlicher Sozialisation im Medizinstudium, konnten sie sich nicht auf Extrempositionen zurückziehen, sondern hatten den doppelten Bezug auf Natur- und Kulturwissenschaft als ständigen Stachel im Fleisch, mussten um Vermittlung und Verhältnisbestimmung bemüht sein.
Der Vortrag wird an einigen Beispielen aus dem 19. und 20. Jahrhundert dieses Ringen um eine wissenschaftlich vertretbare Konzeption fremder Heilkunde darstellen und analysieren – mündend in den Versuch einer Formulierung von Kriterien für die heutige Auseinandersetzung mit dieser Thematik.

Poster

Bericht zum Vortrag